Von Andrea Baier auf Donnerstag, 17. Oktober 2013
Kategorie: allgemein

Subsistenz und Moderne

„Subsistenz und Moderne. Texte über das, was bleiben soll“, heißt ein neues Buch, herausgegeben von Michael Berls und Jacqueline Krause. Es ist gewissermaßen eine Hommage an Ivan Illich, den klugen und engagierten Verfechter von Subsistenz und Konvivialität und dem Recht anderer Kulturen, anders (als der Westen) zu sein.

Illichs Werk, schrieb Wolfgang Sachs, „ist ein groß angelegter Nachruf auf die versinkende Welt nichtindustrieller Kulturen“ (38) und kann als „Aufruf und Ermutigung zu einer selbstbestimmten, freien, subsistenten Lebensweise gelesen werden“ (39). In der modernen Gesellschaft, so beurteilte Illich die Lage, dürfen Menschen nicht mehr eigenmächtig handeln, sie verlieren ein Privileg nach dem anderen, sich außerhalb ihrer Jobs und ohne Kontrolle von Experten nützlich betätigen, ihre Angelegenheiten selber zu regeln, sie werden von der Geburt bis zu ihrem Tod verwaltet (40). Kein Warenreichtum, so Illich, wiegt diese Entmündigung auf. Diese Sicht der Dinge machte Illich zu einem kompromisslosen Kritiker der westlichen Entwicklungspolitik. Als Priester der katholischen Kirche in Lateinamerika und späterer Gründer des Centro Intercultural de Documentación hat er ihre zerstörerischen Folgen hautnah erlebt und unermüdlich angeprangert.

Auch der Fokus der AutorInnen des Buchs „Moderne und Subsistenz“ ist auf den globalen Süden gerichtet: Dort werden den Menschen fortgesetzt die Möglichkeit zur Subsistenz, d.h. zur eigenständigen, vom Zwang zu Lohnarbeit und Warenproduktion (Cash Crop-Produktion) freien Existenz, entzogen. Das Verschwinden der Subsistenz, schreibt Reimer Gronemeyer im Vorwort zum Buch, und er meint damit die Möglichkeit, sich selbst zu ernähren, sich selbst zu kleiden, sich selbst zu behausen, ist ein globaler Prozess, im Norden weiter fortgeschritten als im Süden. Und in der „Dritten Welt“ mit mehr Elend verbunden, weil in der „Ersten Welt“ bekamen die Menschen statt der Subsistenz die Lohnarbeit, dort bekommen die Menschen: nichts. Sie verlieren die Möglichkeit, sich selber zu versorgen und können aber auch kein Geld verdienen, ihre (Lohn-)Arbeitskraft wird nicht gebraucht. Die Entwicklungslogik führt „zum Ausschluß sowohl von reeller Lohnarbeit als auch von traditioneller Subsistenz“ (RiO) (42).

Das Verschwinden der Subsistenz erfolgt durch die Vernichtung des Eigenen: des eigenen Saatgutes, der eigenen lokalen Märkte durch den Anschluss an die Weltwirtschaft, durch den internationalisierten „Bildungszwang“ (7), durch die globale Gesundheitspolitik. Es ist zweifellos verdienstvoll und notwendig, einmal mehr darauf hinzuweisen, dass die „Entwicklung“ die man der Dritten Welt seit den 1960er Jahren andient, nicht die Lösung, sondern die Verursacherin des Problems ist. Tatsächlich ist es immer noch so, dass der Dritten Welt das westliche Ökonomiemodell empfohlen wird, in das sie doch, seit 60 Jahren mit immer dramatischeren Folgen, verstrickt ist.

Im ersten Beitrag verfolgt Michael Berls Genese und Gebrauch des Begriffs „Subsistenz“ in der abendländischen Philosophiegeschichte, um einen anderen Blick „auf gesellschaftliche und gemeinschaftliche Chancen subsistenter Lebensformen zu ermöglichen“. Und es geht ihm dabei auch um die (Selbst-)Ständigkeit der Seele, der Person, des Seins. Im Grundsatz will er darauf hinaus, dass die Zerstörung der Subsistenz der Würde des Menschen schadet, weil er fortan nicht mehr Zweck an sich (was Kant als Grundbedingung einer sittlichen Gesellschaftsordnung ausmachte), sondern Mittel zum Zweck ist (der Profitmaximierung nämlich). Auch Hegel sah laut Berls einen Zusammenhang zwischen „der Eigenständigkeit einer Person und einer besonderen Art der Bewirtschaftung von Grund und Boden“ (25).

Mit der Verallgemeinerung der kapitalistischen Produktionsweise hört nach Marx, so Berls, die sinnliche Außenwelt auf, ein der Arbeit angehöriger Gegenstand, Mittel für die physische Existenz zu sein. Sprich, der Arbeiter produziert nicht mehr für sich, für seinen Lebensunterhalt, sondern fürs Kapital. Die Abkehr von der Subsistenzwirtschaft widerspricht dem ursprünglichen ökonomischen Prinzip, das auf Bestand angelegt war (26). „Das ursprüngliche ökonomische Prinzip“ war eng mit der Agrikultur verbunden. „Subsistenz wird [z.B. bei Tönnies, Weber, Darwin] einerseits gleichbedeutend mit Existenz genutzt, meist jedoch als besondere Art der Existenzweise: der bäuerlichen Agrarkultur“ (28).
Die meisten im Beitrag zitierten Geistesgrößen gehen davon aus, „dass die moderne Zivilisation auch eine Überwindung, Überformung, Neuerung der subsistenten Wirtschaft und Gemeinschaft bedeutet.“ (28) Bis zur „großen Transformation“ (Polanyi) folgte die Wirtschaft dem Bedarfsdeckungsprinzip. Diese bäuerliche, subsistenzwirtschaftliche Idee galt auch für die „gewerbliche Produktion, (...) Handel und Verkehr (…) und hat hier die Geister beherrscht, solange diese Wirtschaftssphären handwerksmäßig organisiert waren.“ (Sombart) (29)

Ivan Illich ließ sich leiten von der Frage bzw. beurteilte eine Institution danach, „ob sie die Fähigkeit des Menschen zu mehr Lebendigkeit und Freude fördern oder behindern“ würde (34). Illich scheute sich nicht, Stellung zu beziehen, er sprach von schädlichen Formen der Technisierung, Industrialisierung, Institutionalisierung; und davon, dass die entmündigende Marktabhängigkeit nicht nur zur Zerstörung von Kultur, sondern auch von „nicht marktbaren Aktivitäten auch in Gebieten, wo noch bis vor kurzem die meisten Bedürfnisse in einem Leben der Subsistenz befriedigt wurden“ führe (39).

Ivan Illich bezog sich auf unterschiedlichste Denker und Theoretiker (von Schumacher, Fromm, Mumford, über Gorz und Freire bis hin zu Marcel Mauss), eine Feministin war jedoch nicht darunter. Diese Tradition schreiben die Autoren des Buchs in ihren Beiträgen fort. So erwähnen sie den Bielefelder Subsistenzansatz zwar, aber ohne sich wirklich mit seinem theoretischen Eigensinn zu befassen. Sie gehen schon mit der Nennung der Namen nicht besonders sorgfältig um, z. B. fehlt der Name von Veronika Bennholdt-Thomsen bei der Aufzählung der Theoretikerinnen, und an anderer Stelle wird ihr Name verhunzt. Wichtige Literaturangaben und eine Bezugnahme auf neuere Arbeiten (u.a. zu Urban Gardening und Commons) fehlen fast vollständig (stattdessen wird aus einem journalistischen Beitrag aus dem Greenpeace Magazin zitiert). Das ist nicht wirklich erklärlich, wir denken, dass die neuen Praxen des Selbermachens von Urban Gardening über Recycling und Upcycling bis hin zu lokalen Tausch- und Teil-„Börsen“ eine Menge über die komplexe Struktur der Moderne vermitteln und Anknüpfungspunkte bieten, über neue urbane Formen der Subsistenz auch in Ländern des globalen Nordens nachzudenken.

Ein weiteres, damit zusammenhängendes, Manko des Buches ist, dass praktisch nicht vorkommt, jedenfalls nicht systematisch analysiert wird, dass der Kapitalismus auch etwas mit dem Geschlechterverhältnis zu tun hat, an einer Stelle wird auf Illichs Unterscheidung zwischen traditionellem Genus und kapitalistischem Sexus rekurriert. Dass es eine wesentliche Differenz zwischen Illich und dem feministisch geprägten Bielefelder Subsistenzansatz gab, wird weder diskutiert noch überhaupt deutlich. Das gesellschaftliche Verhältnis zu Subsistenz, Frauen und Natur ist in der Moderne aber unentwirrbar verzahnt, sprich die gesellschaftliche Lage von Frauen ist bedingt durch das gesellschaftliche Verhältnis zur Subsistenz, insofern wäre dieser Streitpunkt durchaus von Interesse gewesen.

Fazit: „Subsistenz und Moderne“ ist ein verdienstvolles Buch, insofern es Ivan Illich würdigt, sein Engagement und seinen Geist, und einmal mehr die Vorstellung von Wachstum, Fortschritt und Entwicklung als verhängnisvolle, tödliche Ideologie demaskiert, also Stellung bezieht. Es informiert zudem über die Stationen der diversen Entwicklungsdekaden, über die diversen „Grünen Revolutionen“, die der globale Süden über sich ergehen lassen musste, sowie die Ideologielastigkeit westlicher Bildungs- und Gesundheitskonzepte. Überdies erzählt es Geschichten von subsistenten Lebensweisen.
Es trägt jedoch wenig zu der Klärung der Frage bei, wie subsistente Lebensweisen im globalen Norden möglich bzw. wieder herzustellen wären. Das hängt unter anderem damit zusammen, dass die Autoren des Buches unter „Subsistenz(-produktion)“ (Illich folgend) die Fähigkeit verstehen, sich unabhängig (und individuell) vom Markt selbständig zu versorgen, und nicht, wie im Subsistenzansatz, die Produktion für das Lebensnotwendige, die nicht marktförmig organisierte, gleichwohl auf ein Lohneinkommen angewiesene Arbeit, die der unmittelbaren Versorgung gilt. Nach feministischem Verständnis ist die Hausfrauenarbeit die moderne Form der Subsistenz, für Illich ist sie schon deshalb keine Subsistenz, weil sie keine eigenständige Existenz (jenseits des globalen Marktes) begründet und insofern immer eng mit Konsum verknüpft bleibt. So gesehen gibt sein Konzept wenig Hinweise für die „Erste Welt“, denn die Möglichkeit, sich und andere unabhängig vom globalen Markt mit dem Lebensnotwendigen zu versorgen, scheint gegenwärtig in weiter Ferne, insbesondere wenn man diese Möglichkeit vom Individuum her denkt. Anders sieht es aus, wenn man von Commoning und der gemeinsamen Bewirtschaftung von Gemeingütern ausgeht. Zwar sind auch dann die Verfügung über Land und Lebensmittelproduktion unabdingbar, aber möglich in Kombination mit lokal verfassten Märkten und städtischer Lebensweise. So entsteht ein Experimentierfeld. Auf dem Land ebenso wie in den Städten.

Den Doppelcharakter oder die Ambivalenz der modernen Subsistenzproduktion, einerseits für die Wiederherstellung von „Arbeitskraft“ zu sorgen, aber andererseits lebendige Menschen zu versorgen, zu akzeptieren, bedeutet, auch in den Verhältnissen selbst ein subversives Potential auszumachen. Und nicht auf eine heile Welt jenseits der Verhältnisse zu hoffen. D.h. Subsistenz ist weder in dieser noch in jener Welt das Reich der Freiheit, sondern hier wie dort beschädigt und voller Ambivalenz. Diese Ambivalenz ernstzunehmen, ist womöglich erst die Voraussetzung für Widerstand oder Subversion. Die neuerdings auf städtischen (und auch regionalen) Bühnen auftretenden ProtagonistInnen einer neuen Subsistenz haben sich jedenfalls von der Vorstellung verabschiedet, man müsse zunächst ein anderes Gesellschaftmodell „installieren“. Sie konzentrieren sich auf die Dinge, die zu tun sind und vertrauen auf ihr transformatorisches Potenzial.

Michael Berls/Jacqueline Krause (Hrsg.): Subsistenz und Moderne. Texte über das, was bleiben soll. Johannes Herrmann Verlag. Gießen 2013, 215 Seiten, 12 Euro.