Von Andrea Baier auf Mittwoch, 17. März 2021
Kategorie: allgemein

Wider ein sorge- und naturvergessenes Wirtschaften

Auch wenn der Titel – Nachhaltigkeit (re)produktiv denken – vielleicht etwas sperrig klingt; im Kern trifft er das Anliegen der Publikation auf den Punkt. Dabei hat die Herausforderung, Nachhaltigkeit (re)produktiv zu denken, weitreichende Implikationen – es läuft auf die „Neuerfindung des Ökonomischen“ hinaus.
Unter dieser Überschrift arbeiteten Sabine Hofmeister und Adelheid Biesecker (2006) das Konzept der (Re)Produktivität aus, das im Buch aus diversen fachlich-theoretischen und praktischen Perspektiven auf seine Produktivität (!) in Bezug auf unterschiedlichste Problemlagen beleuchtet wird.

Hofmeister und Biesecker setzen in ihrem Theorieentwurf die vielfältigen Prozesse des (Re)Produzierens zu Natur- und Geschlechterordnungen in Beziehung und betonen, dass die Produktivität von Natur und Arbeit – und zwar unbezahlter wie bezahlter Arbeit – nur erhalten bleiben kann, wenn die Wiederherstellung (die Reproduktion) der Voraussetzungen der Produktionsprozesse – und zwar aller Produktionsprozesse – gewährleistet ist. Ökonomie muss (re)produktiv gedacht, der Wert der Reproduktion anerkannt werden.

Der Sammelband ist eine Festschrift für Sabine Hofmeister, die, wie die Herausgeber*innen Tanja Mölders, Anja Thiem und Christine Katz in ihrer Einleitung schreiben, „mit dem Konzept der (Re)Produktivität einen wesentlichen Beitrag zum deutschsprachigen feministischen Diskurs um nachhaltige Entwicklung geleistet“ hat. Sie versammeln ihr zu Ehren eine illustre Schar von (ehemaligen) Mitstreiter*innen, die sich mit Sabine Hofmeisters wissenschaftlichen Beiträgen zur feministischen Umweltforschung, Landschaftsplanung, Nachhaltigen Regionalentwicklung, Ökologie der Zeit, Feministischen Ökonomie sowie zu Natur- und Geschlechterverhältnissen auseinandersetzen.

Da Sabine Hofmeister in ihrem wissenschaftlichen Leben sehr vielfältig gearbeitet hat, sind auch die Weggefährt*innen sehr verschieden, und deshalb erfährt die Leser*in nicht nur etwas über Ökonomie und Reproduktion, sondern auch über Metalle, über Biomasse, eine (re)produktive Landwirtschaft, Zersiedelung, Bevölkerungspolitik, Stadtplanung und noch einiges andere mehr.
Das Buch ist in drei unterschiedlich umfangreiche Kapitel gegliedert. Im ersten erläutert Adelheid Biesecker das gemeinsam entwickelte Konzept. Und Yen Sulmoski zeichnet einen Comic dazu. Nach diesem gelungenen Auftakt folgt Kapitel zwei, der Hauptteil, überschrieben mit „…eine Spurensuche auf vier Pfaden“ – hier findet die Auseinandersetzung mit dem Konzept aus den verschiedenen fachlichen Perspektiven statt; sortiert nach vier Überschriften „Zeit/en“, „Natur/en“, „Räume“ „Inter- und Transdisziplinarität“. Unter „Inter- und Transdisziplinarität“ finden sich, vermutlich nicht zufällig, die meisten nicht im engen Sinne wissenschaftlichen Texte. Hier wird sogar gedichtet (Uta von Winterfeld). Das letzte, sehr kurze Kapitel wirft ein Schlaglicht darauf, dass eine „Professur: Mehr als ein Beruf“ ist, dass sie auch Lebenswelt ist und vielfältig mit (Re)Produktion verknüpft.

Die Leser*in ist live dabei, wie Theorie angewendet, weiterentwickelt bzw. auf ihre Praxistauglichkeit überprüft wird. Das ist auch unterhaltsam, zumal auch Einblicke persönlicher Art gewährt werden, besonders gelungen ist in dieser Hinsicht der Beitrag von Susanne Schön, die ihre langjährige Zusammenarbeit mit Sabine Hofmeister resümiert und aufzeigt, dass die Theorieproduktion Reibung erzeugt und nicht ohne Konflikt, aber auch nicht ohne Kooperation zu haben ist.

Die (re)produktive Perspektive, die Sabine Hofmeister in ihrer Arbeit konsequent einnimmt, ist inspiriert von der feministischen Theorie, hier gehört sie zum klassischen Repertoire, sie auf die Nachhaltigkeitsdebatte angewandt zu haben, ist zweifellos Sabine Hofmeisters großes Verdienst (und das von Adelheid Biesecker).

Feministische Perspektiven sind im Diskurs um nachhaltige Entwicklung immer noch marginal, und umgekehrt war die feministische Umweltdebatte in der Genderforschung lange nicht „en vogue“, wie Christine Bauhardt in ihrem Beitrag sehr richtig schreibt. Das war anders, als ökofeministische Ansätze auch im deutschsprachigen Raum noch im Zentrum des frauenpolitischen Geschehens standen (bevor sie in Essentialismusverdacht gerieten); in den 1980er Jahren sozialisierten Feministinnen wird beim Lesen einiges bekannt vorkommen, die Beiträge nehmen den Faden wieder auf und spinnen ihn weiter.

So verweist z.B. Beate Friedrich in ihrem Beitrag auf vielfältige Bezüge zwischen dem feministischen Marxismus und dem Konzept (Re)Produktivität und schlägt vor, den Ansatz um die Begriffe gesellschaftliche (Re)Produktionsverhältnisse, (Re)Produktionsweise und (Re)Produktivkräfte noch zu erweitern.

Die feministische Nachhaltigkeitsforschung hat sich längst intensiv mit sozialkonstruktivistischen Ansätzen und dem Konzept von Nature/Culture auseinandergesetzt, dabei aber nie den realen Boden, auf dem „das Ganze“ steht (inklusive Theoriegebäude), verlassen. Dazu ist sie wohl zu sehr mit den konkreten Verhältnissen, Prozessen, Handlungen befasst, die zu (Nicht)Nachhaltigkeit führen und die letztlich auch dafür verantwortlich zeichnen, dass bestimmte Leben geschützt sind und andere Leben nicht zählen. So fragen Daniela Gottschlich und Susanne Schultz in ihrem zum Diskurs um Bevölkerungswachstum, welche Bevölkerung(en) denn eigentlich als „überzählig“ gelten. Dass den herrschenden (Re)Produktionsverhältnissen auch eine rassistische Struktur inhärent ist, ist in der Festschrift damit dankenswerter Weise auch festgehalten. Ansonsten konzentrieren sich die Beiträge auf die Verhältnisse im Globalen Norden, das sei hier kurz angemerkt.

Mehr als üblich werden die Autor*innen als Personen hinter den Texten sichtbar. Das ist nicht nur unterhaltsam, sondern auch aufschlussreich, wenn dabei, wie z.B. in dem Beitrag von Babette Scurrell, anschaulich wird, wie Theorie entsteht, die dann auch noch praxistauglich ist. Die Soziologin erinnert sich, wie sie sich in einem gemeinsamen Forschungsprojekt mit Sabine Hofmeister auf ein Naturverständnis und ein Raumverständnis einigen mussten, und schließlich zu einer Bestimmung von „Raum“ kamen, mit der sich gut arbeiten ließ.

Katharina Kapitza nutzt das Konzept (Re)Produktivität, um in den rechtspopulistischen Diskurs um Neobiota zu intervenieren: Sie deckt auf, dass die Klassifizierung von Neobiota als „fremde“, nichtnatürliche Natur auf die Trennungsstruktur „hier Natur, da Kultur“ rekurriert, die im (Re-)Produktivitätskonzept ausgehebelt wird; es geht nie um die Frage einer von den Menschen unberührten Natur, diese Natur ist eine Fiktion, es geht immer nur um die Frage, welche NaturenKulturen gewollt sind.

Ist gesellschaftliches Engagement Arbeit, fragt sich Adelheid Biesecker in ihrem Beitrag, ohne sie abschließend zu beantworten. Von einer (re)produktiven Warte aus betrachtet, von der aus man „Reproduktion“ und „Produktion“ nicht trennt, ist Engagement selbstredend Arbeit, sage jetzt ich (die Rezensentin), vorausgesetzt, das Engagement sorgt sich um den Erhalt der (Re)Produktivität. Die Frage wäre höchstens, ob man Engagement in einer (re)produktiven Gesellschaft mit (re)produktiver Ökonomie noch „Arbeit“ nennen würde, oder aber vielleicht auch „Tätigkeit“, „Aktivität“, „Beitrag“. Oder anders formuliert, ob in einer Gesellschaft, die (Re)Produktivität zur Maxime erhebt, die Wirtschaft also radikal anders organisiert, Lohnarbeit nicht transformiert wäre, ob dann nicht alle einfach tätig wären, statt bezahlt/unbezahlt zu „arbeiten“: Wir wären nicht länger Angestellte, Arbeiter*innen, Beamt*innen – das beruht alles auf Trennung – wir wären in Solidarischen Landwirtschaften aktiv, wir wären Unternehmerinnen in dem Sinne, dass wir etwas mit anderen zusammen unternehmen würden, vielleicht würden wir uns Genoss*innen nennen. Wir würden in Kollektiven arbeiten, wir würden Commoning betreiben und Allmenden bewirtschaften. Man kann sich das heute (noch) nicht vorstellen, oder nur kaum. Das ginge freilich nur, wenn Communitys ihre Lebensmittel (das, was zum Leben gebraucht wird) teilweise selbst produzieren könnten, wenn es gemeinschaftliches/gesellschaftliches (Fürsorgen) statt privates Eigentum gäbe. Das wäre dann wahrlich Vorsorgendes Wirtschaften, ein Konzept, zu dessen Entwicklung Sabine Hofmeister im gleichnamigen Arbeitskreis nicht unerheblich beigetragen hat. Nachhaltigkeit (re)produktiv zu denken, hilft, wie man sieht, eben nicht nur, gegenwärtige Verhältnisse zu analysieren, sondern auch Zukünfte zu entwerfen.


Tanja Mölders, Anja Thiem, Christine Katz (Hg.) (2020): Nachhaltigkeit (re)produktiv denken. Pfade kritischer sozial-ökologischer Wissenschaft, Opladen, Berlin, Toronto: Verlag Barbara Budrich.


Hier geht’s zur Kurzfassung der Rezension von Andrea Baier, die erstmals auf dem Blog interdisziplinäre Geschlechterforschung veröffentlicht wurde.