Der Begriff „Reverse Engineering“, der ursprünglich aus dem Maschinenbau stammt, ist in den vergangenen Jahren verstärkt von einer digitalen Avantgarde adaptiert worden, von der er zunehmend popularisiert und politisiert wurde. Reverse Engineering bezeichnet Praktiken des Replizierens bzw. Kopierens von Artefakten (Gegenständen). Beim Reverse Engineering als politischer Praxis geht es darum, das in die Geräte oder Gegenstände eingeschlossene Wissen, das auf mannigfaltige Weise vor dem Nutzer verborgen wird, zutage zu fördern und es Interessierten zur Verfügung zu stellen. Der Hintergrund des Reverse Engineering ist die zunehmende Abschirmung bzw. das zunehmende Verstecken bzw. (auch rechtliche) „Versiegeln“ des in die jeweiligen Geräte eingeschriebenen Wissens. Während man vormals Gehäuse in der Regel öffnen und Einblick in das Innere nehmen konnte, wird dieser Zugang zunehmend versperrt, z.B. indem Gehäuse nicht mehr geöffnet werden können. Hierdurch wird sowohl die Reparatur als auch jede andere Form der Befassung mit der eingebauten Technik erschwert oder sogar verhindert. Durch diesen firmenseitig strategisch geplanten Ausschluss verändert sich das Verhältnis der Konstrukteure zu ihrem Umfeld grundlegend: Während sich die Konstrukteure früher im Verbund mit Handwerkern verorteten, die für die Reparatur zuständig waren und diesen bewusst Zugang eröffneten, werden Handwerker heute in wachsendem Maße ausgeschlossen bzw. von den Firmen (als lizenzierte Experten) kontrolliert und jeder Eigenständigkeit beraubt (z.B. die sogenannten „Vertragswerkstätten“ versus die „freien Werkstätten“ im Automobilsektor). Weder den Besitzern noch anderen Personengruppen wird Zugang zu den erworbenen Produkten gewährt. In der neuen Konstellation werden aus Besitzern Nutzer (user), deren Spektrum an Dingbezügen in erster Linie durch ästhetische Aspekte (Produktdesign) und standardmäßig vorgegebene bzw. zugelassene Nutzungsformen (Bedieneroberflächen bzw. Interfaces) strukturiert und bestimmt wird.
Dieser Entmachtung treten die Aktivisten des Reverse Engineering entgegen, indem sie sich Zugang zum Geheimwissen verschaffen. Den Akteuren des Reverse Engineering geht es darum, die technischen und praktischen Modalitäten des eigenen Lebens in die eigenen Hände nehmen zu können. Den vollen und unbegrenzten Zugang zu den modernen Technologien zu bekommen, begreifen sie als notwendige Voraussetzung für ein selbstbestimmtes Leben. Das Reverse Engineering endet jedoch nicht beim Öffnen und Replizieren einer Technologie, vielmehr wird vorgefundene Technologie auch um neue Funktionen erweitert. Man distanziert sich bewusst von der dominierenden Semantik der „Benutzerfreundlichkeit“, die man als Sprache der Entmündigung begreift. Man dreht diese dominierende Sicht der Dinge um, indem man den logischen Zusammenhang von kapitalistischer Ausbeutung und der künstlichen Verknappung (Exklusivierung) von Wissen in den entsprechenden Waren/Geräten kritisch bewertet und sich stattdessen um die Verallgemeinerung dieses Wissens bemüht. Es geht also letztlich um das Aufbrechen des Zusammenhangs von Wissen und warenförmigen Produkten. Damit ist Reverse Engineering eine demokratische Praxis, die darauf abzielt, Wissen grenzenlos zugänglich zu machen und es damit der kapitalistischen Verwertung als Ware zu entziehen. Reverse Engineering ist in vielen Fällen (insbesondere bei Software-Technologien) verboten, da es gegen gültige Software-Lizenzbestimmungen verstößt.
Friesinger, Günther/ Herwig, Jana (eds.) (2014): The Art of Reverse Engineering. Open – Dissect – Rebuildt. Bielefeld: transcript.