Für viele Großstadtbewohner_innen ist der Gemüsegarten ein Antidot zu Aufmerksamkeits- und Gegenwartsverlust, Multitasking und Secondscreening, Beschleunigung und Zeitverdichtung. Er dient dem "erschöpften Selbst" (Alain Ehrenberg) als Refugium. Der Garten verlangt nicht nach Zeitverkürzung, ganz im Gegenteil, er fordert die ihm eigene Zeit ein und die Gärtner_innen auf, sich auf die Bedürfnisse anderer Lebewesen einzulassen. Gärtnern entschleunigt und ermöglicht Erfahrungen mit Zeitzyklen und Sinnhorizonten der Agrarkultur. Jedes Jahr beginnt der Kreislauf neu mit der Vorbereitung des Bodens und dem Säen. Man ist der Natur ausgesetzt, den klimatischen Verhältnissen, den Jahreszeiten und den Tag-Nacht-Zyklen. Diese Zeitdimensionen sind faszinierend für hochgradig virtualisierte Individuen, für die alles gleichzeitig möglich und steuerbar scheint, nicht zuletzt, weil sie erkennen lassen, dass sie selbst in Lebenszyklen eingebunden sind und dass es klug ist, sich den Gegebenheiten gelegentlich einfach hinzugeben.
Ehrenberg, Alain (2008): Das erschöpfte Selbst: Depression und Gesellschaft in der Gegenwart. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
Rosa, Hartmut (2005): Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne. Frankfurt am Main: Suhrkamp.