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Der Garten als Ort der Heilung
Ein Tagungsbericht von Robert Jende
„Solidarische Gärten, solidarische Ernte“, so lautete der Titel der Tagung, zu der die anstiftung und Xenion e.V. vom 27. bis 29. Juni 2025 nach Berlin-Neukölln, in die Prinzessinnengärten einluden. Im Zentrum standen Fragen zur Trauerarbeit und Traumabewältigung – und wie Gemeinschaftsgärten als Orte für Heilung wirken können.
Zur inhaltlichen Eröffnung der Tagung legte Christa Müller dar, was diese Gärten von Beginn an waren: Ankommensorte für Menschen, die einen leidvollen Weg der Vertreibung hinter sich haben. Mitte der 1990er Jahre waren es bosnische Frauen, die in Göttingen dazu befragt wurden, woran es ihnen in Deutschland denn fehle. Ihre Antwort lautete: Unsere Gärten. Und so begannen sie, den ersten Interkulturellen Garten aufzubauen. Dieser Prozess der Ermächtigung und Beheimatung, der Garten als grüne Landschaft, die darin gewachsene Gemeinschaft und die Möglichkeit, die erlebten Geschichten miteinander zu teilen – damit nicht allein zu sein –, stellten sich als heilsam heraus. Entsprechend versammelte die Tagung psychotherapeutische und sozialwissenschaftliche Zugänge mit Erfahrungen aus postmigrantischen Gemeinschaftsgärten.
Das Frauendorf Jinwar
Filmabend in der Kapelle
Zur Einstimmung öffnete die Kiezkapelle auf dem Neuen St. Jacobi-Friedhof, auf dem sich das Prinzessinnengarten Kollektiv befindet, am Abend des 27. Juni die Tür. Der gezeigte Dokumentarfilm „Jinwar (WOMEN’S VİLLAGE)“ nahm das Publikum mit auf eine Reise in das in Rojava liegende Frauendorf. Rojava ist ein autonomes kurdisches Gebiet im Norden Syriens, das ab September 2014 entsetzlichen Angriffen des Islamischen Staates (ISIS) ausgesetzt war und teilweise erfolgreich gegen die Terrormiliz gekämpft hat. Das Frauendorf Jinwar entstand Ende November 2018 aus der Vision einer feministischen, ökologischen und basisdemokratischen Gesellschaft. Es sollte ein sicherer Ort sein für Frauen, die Gewalt, Krieg und patriarchale Unterdrückung überlebt hatten. Die Initiative ging von kurdischen Frauen aus, die sich im Zuge der Revolution in Rojava selbstorganisierten - und neue Lebensformen jenseits traditioneller Familienstrukturen und patriarchaler Herrschaft entwickelten.
Die Frauen in Jinwar betreiben eine ökologische, subsistenzorientierte Landwirtschaft, eine Bäckerei, ein Gesundheitszentrum und teilen Verantwortung in allen Lebensbereichen. Die Jineologie, die „Wissenschaft der Frauen“, bildet das feministische Fundament des Dorfes. Sie verbindet Heilung, Bildung und politische Emanzipation.
Wissen bewahren, Wunden heilen
Der Baum für Jina Amini im Hevrîn-Xelef-Garten
Die Tagung fand in Kooperation mit dem Heilkräutergarten Hevrîn Xelef statt, dem Schwesterngarten von Jinwar, der am Ende des St. Jacobi Friedhofs angesiedelt ist. Er wurde in Gedenken an die kurdische Politikerin benannt, die 2019 von einer türkeitreuen syrischen Miliz ermordet wurde. Im Austausch, und inspiriert von Jinwar, initiierte Anuscheh Amir-Khalili, heute Mitarbeiterin der anstiftung, damals noch als Aktivistin und Mitgründerin von Flamingo e.V., den Heilkräutergarten in Berlin-Neukölln. Der Garten dient dem Austausch von generations- und kulturübergreifendem Heilwissen und -kräutern in einem geschützten Raum.
Das Gedenken, die Bewahrung historischer Ereignisse, kultureller Techniken und Bräuche sowie des Wissens um Gesundheit und Heilung, ist ein wesentlicher Bestand des Gemeinschaftsgartens. Heilung geschieht durch Verbundenheit und Auseinandersetzung mit der Vergangenheit. Die im Hevrîn-Xelef-Garten gepflanzten Gedenkbäume erinnern an oftmals schreckliche Ereignisse wie den Völkermord an den Ezid*innen oder den Tod von Jina Amini im iranischen Polizeigewahrsam. Die Bäume helfen, die Geschichte am Leben zu halten und gemeinsam einen Umgang mit dem Erlebten zu finden.
In ihrem Beitrag Wiederbepflanzung heißt Gerechtigkeit sprach Dr. Leyla Ferman (Women for Justice e.V.) mittels der Baumpflanz-Kampagne 1tree4Shingal über diese Verbindung von Bäumen mit der Kulturgeschichte. Bäume sind in der ezidischen Kultur heilig, die Natur ist Basis allen Lebens. Es besteht eine dezidiert religiöse Verknüpfung: Ein Baum ist eine heilige Gedenk- und Wirkungsstätte echter Geschichte. Der Baum verweist auf ein reales historisches Ereignis und stiftet eine spirituelle Verbindung zur Vergangenheit und zu den Ahnen. Wenn ein Lebensraum zerstört wird, so wie es während des Massakers an den Ezid*innen geschah, so wird die ganze Geschichte dieser Bevölkerung mit ausgelöscht. Das Pflanzen neuer Bäume in Gedenken an die durchlebten Schrecken eröffnet den Horizont auf eine bessere Zukunft und pflanzt den Samen der Hoffnung, die mit dem Baum wachsen kann. Das Pflanzen eines Baumes knüpft das heilige Band kultureller Kontinuität auf eine neue Weise – mit offenen Wunden, Pflastern und Binden, später sind es Narben. Im Heilkräutergarten Hevrîn Xelef wurde ein Baum im Gedenken an den Völkermord an den Ezid*innen 2014 zeremoniell in Begleitung von Musik und Gesang gepflanzt.
Zeremonie am Gedenkbaum
Der Garten als Ort für sinnliche Erfahrungen und soziale Geborgenheit
Der gemeinschaftlich gepflegte und bewirtschaftete Garten dient hüben wie drüben als Raum der Sicherheit und Geborgenheit. Die Psychologin Pauline Morley von Xenion e.V., einem Verein für psychosoziale Hilfen für politisch Verfolgte, arbeitet mit geflüchteten Menschen, die traumatisierende Ereignisse durchleben mussten. Mit ihrem Input Was ist Trauma? Überlegungen aus psychotherapeutischer Perspektive machte sie deutlich, dass Stressräume ein Trauma verstärken, was sich in einer tiefen Verzweiflung äußern kann. Ein Garten wirkt aufgrund seiner die Sinne ansprechenden Präsenz beruhigend, schafft eine Umgebung der Geborgenheit im Hier und Jetzt. Pflanzen, Düfte, die Geräusche der umgebenen Natur stellen einen sinnlichen Resonanzraum her, zu dem, was sich in den Körper – als Trauma – eingeschrieben hat. An diesem Ort können Vergangenheit und Zukunft emotional und sensuell verknüpft werden. Die beruhigende Wirkung und die Verankerung im Hier und Jetzt sind Basis für die Traumabewältigung.
Das demonstriert der Rosenduftgarten am Berliner Gleisdreieck in besonderer Weise. In ihrem bebilderten Beitrag Interkulturelle Gärten als heilende Orte für bosnische Frauen warf Begzada Alatović Schlaglichter auf zwei Jahrzehnte Erfahrung. Der Rosenduftgarten ist für die Frauen, die im Zuge der Jugoslawienkriege mit traumatischen Erfahrungen nach Deutschland kamen, ein Ort des Vertrauens. Sie haben ihre Männer verloren, wurden vergewaltigt, gefoltert oder Opfer anderer Kriegsverbrechen. Hier sind sie mit ihrer Geschichte nicht allein, können in vertrauter Runde über ihre Erlebnisse sprechen, zusammen singen und weinen, voneinander lernen, ihre Geschichten austauschen – und: gemeinsam heilen. Der Duft der Rose ist ein sinnlicher Anker, der das Wurzelnschlagen in der Fremde begünstigt. Es wird altes Saatgut ausgetauscht, welches die Vergangenheit in sich trägt. Die gemeinsame Gartenarbeit dient als Brücke zwischen den unterschiedlichen Sprachen. Zweimal in der Woche trifft sich eine Selbsthilfegruppe und tauscht sich über die Schicksalsschläge und Traumata aus. Der Gemeinschaftsgarten wirkt beruhigend, er ist offen für die Probleme der Menschen. Die Frauen erfahren eine sinnliche und soziale Geborgenheit – ihr beschädigtes Leben kann genesen und neu wachsen. Jeder Gesprächskreis beginnt mit einem gemeinsamen Kaffee, lässt uns Begzada wissen.
Gartenarbeit im Rosenduftgarten (Bildquelle)
Vertreibung, Folter und Flucht
Vom absoluten Gegenteil, wie traumatisierte Menschen in Stressräumen retraumatisiert und in eine existenzielle Verzweiflung gestürzt werden können, berichtete Zana Aksu, ein Aktivist aus Berlin. Seine Foto- und Videostrecke Zur Lage in Flüchtlingsunterkünften in Deutschland am Beispiel von Berlin-Tegel zeichnete ein erschreckendes Bild von der Flüchtlingsunterkunft Berlin-Tegel. Zur Ankunft und Begrüßung werden geflüchtete Menschen registriert und zu einer Nummer. Im Laufe der Zeit vergessen sie manchmal ihre Namen, melden sich nur noch mit ihrer Nummer, stehen in der Gefahr des zunehmenden Identitätsverlusts. Die systematische Entmenschlichung – der Gegenpol zu Geborgenheit: es stinkt, es herrscht Gewalt – treibt viele Menschen in den Suizid. Zana zeigte uns Bilder von Freunden, die nicht mehr leben. Sie haben sich aus Verzweiflung und Ausweglosigkeit umgebracht. Ihre traumatisierende Fluchterfahrung traf auf einen kalten, steinernen, entmenschlichenden Ort und jede Möglichkeit auf Verarbeitung, Heilung und Erneuerung wurde ausgelöscht – und damit auch die Subjekte dieser Erfahrung.
Dieser Möglichkeit der Aufarbeitung und Heilung nimmt sich das Zentrum ÜBERLEBEN an. Es wurde Anfang der 1990er Jahre als Behandlungszentrum für Folteropfer gegründet. Mittlerweile gibt es zehn Abteilungen, die unter anderem eine Tagesklinik, eine Berufsschule, eine wissenschaftliche Abteilung und einen Therapiegarten umfassen. Die Sozialarbeiterin Magdalena Graf und der Gartentherapeut Gregor Mothes berichteten von den Wirkungen des Heilgartens in Moabit. In der Gartentherapie soll an vorhandene Erfahrungen der Patient*innen mit Natur und Gartenarbeit angeknüpft und durch die emotionale Bindung an eine Gemeinschaft zur Integration beigetragen werden – für eine „sinnliche und soziale Beheimatung“. Das Motto auch hier: „Wurzeln schlagen in der Fremde“. Die Einbettung in vitale Wachstumsprozesse und Naturkreisläufe stellt eine Verbindung zur Vergangenheit her. Der Garten bietet einen geschützten Raum, um sich therapeutisch begleitet für eine selbstbestimmte Zukunft zu öffnen. Die selbstversorgenden Tätigkeiten in der Gartenarbeit stellt sich als kraftvolle Ressource heraus, das Gefühl der Sinn- und Nutzlosigkeit wird durchbrochen. Das Erregungsniveau wird gesenkt, die persönlichen Ressourcen gestärkt. Im interkulturellen Heilgarten werden die Menschen vom Opfer zum selbstwirksamen Akteur ihrer eigenen Geschichte.
Themenreise & Ausklang
Am letzten Tag versammelten sich die Tagungsteilnehmer*innen zu einem World Café an sechs unterschiedlichen Thementischen, um die gesponnenen Fäden der Tagung nochmal in kleinerer Runde zu diskutieren:
- Gärten gut organisieren – was funktioniert?
- Interkulturelle Gärten – gelebte Utopien?
- Gartenzeremonien gestalten – wie geht das?
- Therapiegarten werden – wie kann das gelingen?
- Unsere Gärten, unsere Geschichten
- Solidarisch gärtnern – wie funktioniert das konkret?
Am ersten Tisch drehte sich die Diskussion um Methoden zur Organisation und Kommunikation, um sicherzustellen, dass alle im Garten teilnehmen können, insbesondere in interkulturellen Kontexten. Google Translator zur Übersetzung während Sitzungen, Messenger-Dienste für die Organisation und der Aufbau von Netzwerken durch Nachbarschaftshilfe wurden als nützlich erachtet.
Thementische in der Kapelle (Foto: Philip Leutert)
Der zweite Tisch brachte gesellschaftspolitische Herausforderungen zur Sprache: Es wurden Angriffe von Neonazis auf Gartenprojekte angesprochen und Diskussionen über die Entwicklung und das wachsende Interesse an Interkulturellen Gärten geführt. Welche Rolle spielen Gärten als Orte der Verteidigung von Demokratie und gesellschaftlicher Vielfalt?
Der dritte Tisch betonte die Wichtigkeit inklusiver Zeremonien, die unterschiedliche Gemeinschaften einbinden. Der Garten wird als neutraler, nicht vordefinierter Ort des Zusammenkommens gesehen, Rituale als Basis einer Gemeinschaft. Im Spannungsfeld von individueller Entfaltung und Gemeinschaftsbildung soll er Platz spenden für die Vielfalt spiritueller Zugänge und Zeremonien.
Am vierten Tisch wurde besprochen, wie Gärten therapeutisch wirken können. Der Fokus lag darauf, einen klaren Rahmen für Grundbedürfnisse wie Sicherheit, Anerkennung und Kontrolle zu schaffen. Im Therapiegarten geht es darum, in einen entspannten Zustand zu geraten und Ängste abzubauen.
Der fünfte Tisch drehte sich um die emotionale Bindungskraft von Gemeinschaftsgärten. Der Garten wird als Ort der Entspannung, des Zusammenkommens und der Naturverbundenheit wahrgenommen. Die Verbindung zur Natur durch das leibhaftige Spüren von Erde, Pflanzen und Düften wird als sinnlich und emotional bereichernd beschrieben.
Am sechsten Tisch wurden Fragen zu gelebter Solidarität und niedrigschwelliger Teilhabe in Gemeinschaftsgärten diskutiert. Es war eine Ideenbörse zum Zugang und zur Teilhabe an Saatgut, Wasser, Ernte und Wissen. Themen wie Landbesitz, politische Machtverhältnisse und Dominanzstrukturen wurden kritisch angesprochen.
Nach dem World Café begab sich die Tagungsgemeinschaft noch einmal in den Heilkräutergarten Hevrîn Xelef, um praktisches Heilkräuterwissen für Zuhause einzusammeln. Von Flamingo e.V. und Women in Exile e.V. wurde das selbstorganisierte Apotheken-Projekt HEKAYAT vorgestellt: Medizin aus Heilkräutern herstellen und solidarisch verteilen. Die Teilnehmenden pflückten Heilkräuter, banden sie zum Trocknen zusammen, mischten Tees und lernten über die heilsamen Wirkungen.
Die Tagung endete zeremoniell mit der Musikerin Yalda Yazdani auf ihrer Tar.
Yalda Yazdani an der Tar
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